Unsere Tochter ist Lehrerin, 22 Jahre jung und seit Kurzem verantwortlich für eine erste Primarschulklasse. Neulich durfte ich sie als Begleitperson an einem Waldmorgen in Aktion erleben – und bin natürlich begeistert von ihren pädagogischen Fähigkeiten. Doch darum geht es hier nicht. Vielmehr machte ich eine interessante Beobachtung punkto Hierarchie in Systemen und woran sich diese festmacht.
Zu Beginn nämlich stellten wir uns im Kreis auf, alle wasserfest verpackt im Nieselregen. Unsere Tochter erklärte, dass am heutigen Morgen zwei Frau Fürbringer anwesend seien. Wer wohl die zweite sei? Mit grossen Augen schauten mich die Kinder an, worauf das erste einen Versuch startete, das Rätsel zu lösen: “Deine Tochter!” Auf das schmunzelnde Nein der Lehrerin folgte der zweite Versuch: “Deine Schwester!” Als auch diese Variante sich als nicht korrekt erwies, kam mit dem dritten Anlauf die Lösung: “Deine Mutter”. Das “Richtig” wurde mit grossen Augen, lautem Staunen samt torkelndem Gang und flachem Handklatsch auf die Stirn bei verdrehten Augen quittiert. Dass ihre uralte Lehrerin sogar eine Mutter hat, das war einfach unerklärlich. Zur Verteidigung sei angefügt, dass sie sich mathematisch soeben im Zahlenraum bis 24 zurechtzufinden beginnen.
Abgesehen von der Beschwingtheit, die solche Momente auslösen, hat mir die Erfahrung eindrücklich gezeigt, wie unterschiedlich die Perspektiven sein können. Diese Kinder erleben unsere Tochter als die Autoritätsfigur im Klassenzimmer, die sie bewundern (das ist in diesem zarten Alter tatsächlich noch so). In ihrem Wissensstand meilenweit entfernt führt sie diese ausgesprochen nette Lehrerin in all die Geheimnisse von Schrift, Zahlen und allerlei spannenden Themen ein, die sie brennend interessieren. Die Rolle plus die pädagogischen Fähigkeiten und der eklatante Wissensvorsprung etablieren mit Leichtigkeit die erlebte Autorität. Unvorstellbar, dass diese Person Eltern haben soll und damit eine Rolle einnimmt, die sie selbst gut kennen und wo all das Überlegene keinen Raum zu haben scheint. Fixe Bilder sind in den Köpfen herumgewirbelt und haben gespielte Ohnmachtsgefühle ausgelöst.
Wir ordnen unsere Welt aufgrund von Erfahrung und punkto Leiterschaft ist das nicht anders. Sehen wir beispielsweise viele Männer in kirchlichen, wirtschaftlichen oder politischen Ämtern, gehen wir davon aus, das habe so seine Richtigkeit. Tritt dann erstmals eine Frau in derselben Funktion auf, irritiert das, löst gespielte und echte Ohnmachtsgefühle aus und macht manchmal sogar misstrauisch. Doch die Dinge beginnen sich zu ändern – wiederum ein Kind hat das deutlich zum Ausdruck gebracht. Anlässlich der Wahlen in Deutschland fragte eine Siebenjährige: “Kann eigentlich auch ein Mann Kanzlerin werden?” Die Sicht der Dinge erweitert sich, was für ein ermutigendes Zeichen.
Sabine Fürbringer